Tuesday 2 August 2016

Eine andere Sicht der Wirtschaft (5) — Kämpferischer Kapitalismus



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Eine Vorbetrachtung zum Machtkampf zwischen Arbeit und Kapital


Im zweiten Kapitel seines Buchs Plenty of Nothing beschäftigt sich Thomas Palley mit den Ursachen für den Zerfall des Systems, das von 1945-1975 Wohlstand für alle ermöglichte. Bevor ich fortfahre, seine Argumente nachzuzeichnen möchte ich eine gewisse Unsicherheit zur Sprache bringen, die mich angesichts eines zentralen Gesichtspunkts seiner Argumentation beschleicht. Palley ist der Meinung, dass die Stärkung der Arbeitnehmerrechte, der größere Schutz gegen Arbeitslosigkeit und das soziale Sicherheitsnetz insgesamt dazu beitragen, die Position der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern zu stärken. Weder möchte ich derartige Errungenschaft in Frage stellen — Übertreibungen selbstverständlich ausgenommen — noch bestreite ich, dass sie der Verhandlungsstärke der Arbeitnehmer förderlich sein können. Vor allem, wenn sie auf breite Zustimmung stoßen und tiefe Wurzeln im Bewusstsein der Öffentlichkeit schlagen.

Meine Zweifel rühren daher, dass soziale Absicherung wie wir sie in unseren Breitengraden errungen haben offenbar auch ambivalente Effekte auslösen kann, welche unter Umständen das Gegenteil dessen bewirken, was angestrebt wird: nämlich sichere Arbeit und gutes Auskommen.

Ich bin mir keineswegs sicher, ob meine diesbezügliche Intuition zutrifft, ich empfinde sie zurzeit noch eher vage — sie lässt sich vielleicht in folgender Hypothese zusammenfassen: mit der Ausweitung des Sozialstaats und der Gewährleistung eines verlässlichen Schutzes vor den schlimmsten Folgen von Verhandlungsschwäche seitens der Beschäftigten und vor allem Arbeitslosigkeit, entsteht ein System, das zum Konkurrenten der Infrastruktur wird, die sich die Arbeiter aufgebaut haben, um ihre Interessen gegenüber den Arbeitgebern zu verteidigen. Das Resultat ist eine Atomisierung und Depolitisierung der Arbeiterschaft, so dass ihr wichtigstes politisches Kapital schwindet: die Fähigkeit, eine gemeinsame Front gegenüber dem Kapital aufzustellen. Die Forderung der Arbeiterbewegung nach einem wirkungsvollen Sozialstaat nimmt irgendwann den Charakter einer Selbst-Kannibalisierung an. Wenn Familien und Arbeitergemeinden schwächer werden und der Arbeitslose aufgefangen wird durch den Sozialstaat, gehen wichtige Elemente verloren, die zu einer starken Solidarität unter Arbeitnehmern Anlass geben.

Ich meine, Palley argumentiert überzeugend, wie ich hoffentlich werde zeigen können, dass der Faktor Arbeit über ausreichende Macht verfügen muss, um dem natürlichen Interessensgegensatz gegenüber dem Kapital gewachsen zu sein. Doch frage ich mich: ist der Niedergang  der alle Schichten umfassenden Wohlstandgesellschaft nicht vor allem deshalb zustande gekommen, weil der Faktor Arbeit keinen Weg gefunden hat, ein gleichwertiger Kontrahent für das Kapital zu bleiben? Vor allem, wie mir scheint, weil der von den Beschäftigten gewollte Sozialstaat, die „Klassen“-Solidarität der Arbeiter erfolgreich verdrängt und (scheinbar) überflüssig gemacht hat. Geringst verdienend oder gar arbeitslos zu sein, ist keine soziale Schande mehr, die eine Gemeinschaft von Gemeinschaften — von der klassenbewussten Arbeiterfamilie und dem Arbeiterviertel bis zur nationalen Volkspartei und Gewerkschaftsbewegung — zu entschlossenem Widerstand mobilisiert. Früher undenkbar und in seiner Undenkbarkeit konstituierend für das Klassenbewusstsein der Arbeiter, kann heute eine minderjährige alleinerziehende Mutter halbwegs überleben und in dieser Rolle Anspruch auf soziale Anerkennung genießen. Der Ansprechpartner in Sachen persönlich-existenzieller Belange ist nicht mehr die Kulturgemeinschaft der Arbeitergenossen, sondern eine Behörde. Es geht nicht mehr darum, einer Klasse Arbeit und die dazu erforderliche gesellschaftliche Macht zu sichern. Die relevante Frage ist, ob einem ein neuer Kühlschrank von Staats wegen zusteht — was ich nicht ironisch-herablassend meine. Vielmehr vermute ich, dass wir mit einem schwerwiegenden Dilemma konfrontiert sind, dahingehend, dass die Wiederkehr der Wohlstandsgesellschaft davon abzuhängen scheint, dass der Faktor Arbeit wieder als geschlossene politische Kraft auftritt, während die gesellschaftlichen Bedingungen weit davon entfernt sind, dies zu gestatten.

Die Standpunkte der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sind in vielen wichtigen Aspekten gegensätzlicher und schwer zu vereinbarender Art. Soll sich aber der Auftrag der Freiheit erfüllen, soll eine wohlhabende und sozial ausgewogene Gesellschaft entstehen, sind beide Seiten darauf angewiesen, miteinander auszukommen. Wenn ihre unterschiedlichen Interessen partout als unversöhnlich und unüberwindlich gelten, kann keine gute Gesellschaft heranwachsen.

Auch wenn sie miteinander konfligieren, beide Seiten haben ein Anrecht, ihre Interessen so weit als allgemein verträglich anzumelden und durchzusetzen. Die entstehenden Spannungen müssen zugelassen, ausgehalten und bewältigt werden. Aber die Notwendigkeit eines zivilisierten Konflikts trägt ein gefährliches Paradoxon in sich — wenn eine der beiden Seiten nicht in der Lage ist, sich in diesen Kampf als gleichwertigen Kontrahenten einzubringen, droht Gefahr für das gesellschaftliche Gleichgewicht.


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