Friday 7 October 2016

FV (15) — Grundirrtümer des Anarchismus (1 von 2)

 
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Grundirrtümer des Anarchismus (1 von 2)

Die Argumentationskette, mit der Murray N. Rothbard sein Bekenntnis zum Anarchismus begründet – in aller Kürze:

Er beginnt mit einem Axiom, das keines ist, jedenfalls nicht im Sinne einer grundlegenden, nicht weiter zu begründenden oder selbstevidenten Aussage, aus der sich mit Hilfe weiterer Propositionen ein widerspruchsfreies Aussagesystem ableiten lässt.

Am Anfang steht das Nicht-Aggressions-“Axiom”, das in etwa besagt, Aggression ist nur dann zulässig, wenn sie im Dienste der Selbstverteidigung erfolgt, also zur Abwehr von Übergriffen gegen die eigne Person und ihr legitimes Eigentum.

Um die Berechtigung dieses “Axioms” herzuleiten, führt R. den Terminus des Selbstbesitzes ein. Jeder Mensch habe ein “absolutes Recht auf Selbstbesitz”. Der Selbstbesitz ist ihm von Natur aus gegeben; denn ohne Ausübung seines Rechts auf Selbstbesitz sei der Mensch nicht in der Lage, sein Überleben zu gewährleisten. Die einzige Rechtsordnung, die auf einer schlüssigen, universalisierbaren Ethik beruhe sei jene, die auf dem “absoluten Selbstbesitz” des Menschen fuße. Die einzigen Alternativen hierzu seien (1) der Kommunismus und (2) die Diktatur einer Minderheit über die Mehrheit, d.h. (ad 1) der Besitz aller an allen oder (ad 2) der Besitz einiger an allen anderen. (1) führe in der Praxis zu (2), und (2) sei kein ethisch akzeptables Rechts-Regime, da es die Gleichanwendung des Rechts auf alle notwendigerweise ausschließt.

Mit seiner Ethik des absoluten Selbstbesitzes glaubt R. eine Theorie und eine Ordnung des (Natur-)Rechts dargestellt zu haben, die wiederspruchsfrei und moralisch makellos sei. Selbstbesitz ist ein Gebot der Natur, ein Gebot des natürlichen Rechts, des Naturrechts. Wer dieses Naturrecht missachtet, handelt wider die Natur, wider das Naturrecht. Da der Staat das absolute Recht auf Selbstbesitz einschränkt, ist der Staat wider die Natur, wider das Naturrecht.

Freiheit bedeutet Selbstbesitz ausleben, also bedarf es der Abschaffung des Staats, um Freiheit zu erreichen. Dieser Rothbarschen Argumentation lassen sich meiner Meinung nach eine Reihe von Fehler nachweisen.
 
Zunächst folgende Vorbetrachtung:

Menschen weisen Merkmale persönlicher Autonomie auf, d.h. sie zeichnen sich durch Eigenschaften aus, die nur ihnen anhaften, die nur von ihnen vollzogen oder nur an ihnen vonstatten gehen können. Das reicht von der Notdurft, die niemand für einen anderen verrichten kann, bis zu den persönlichen Assoziationen, die einen Menschen zu einer bestimmten Handlung bewegen.

R. greift eine Untermenge dieser Merkmale persönlicher Autonomie heraus – und zwar jene, die die Fähigkeit des Individuums betreffen, für sein Überleben zu sorgen – und erklärt sie zu Erscheinungen des naturgegebenen Selbstbesitzes eines jeden Menschen.

Hier haben sich bereits zwei Fehler in die Argumentation eingeschlichen.

(i) Trotz semantischer Gleichsetzung durch den gemeinsamen Begriff “Besitz”, sind Merkmale persönlicher Autonomie anthropologische Phänomene, die klar zu unterscheiden sind von rechtlichen Sachverhalten, die mit dem Begriff “Besitz” bezeichnet werden.

Aus dem Umstand, dass Menschen Merkmale persönlicher Autonomie aufweisen folgt nicht bereits schon, welche Eigentumsrechte obwalten, als wünschenswert angesehen werden (dürfen) oder überhaupt – unter den gegebenen historischen Bedingungen – darstellbar sind.

Während die Merkmale persönlicher Autonomie naturgegeben sind, ist es nicht zutreffend, dass mit ihnen deswegen auch bestimmte Rechts- und Eigentumsverhältnisse naturgegeben sind. Welche Besitzrechte ein ndividuum realiter hat oder für wünschenswert ansieht, wird durch Prozesse bestimmt, die in keinsterweise durch das Vorhandensein von Merkmalen persönlicher Autonomie bereits in ihrer bestimmten Ausprägung festgelegt sind. Diese Merkmale persönlicher Autonomie sind vielmehr in den unterschiedlichsten Rechts- und Eigentumsordnungen gleichbleibend anzutreffen. Salopp gesagt: auch der eigentumslose Neanderthaler konnte seine Respiration nicht von einem anderen Neanderthaler erledigen lassen.

(ii) R. berücksichtigt nicht, dass anthropologischer Selbstbesitz zu allererst Zwangsbesitz ist, aufgedrängter Besitz, den man gerne hinnehmen mag, in vielen Fällen aber wieder nicht, denn er ist nicht fungibel und nicht entäußerbar, zugleich aber ist er oft belastend, quälend, gefährlich oder tödlich, wie der Krebstod, den keiner für einen anderen erleiden kann.

Stattdessen greift er einseitig und willkürlich solche Merkmale persönlicher Autonomie heraus, die bei der Überlebenssicherung im Spiele sind, und überezichnet ihre Rolle, insofern als er nur das Denken und Handeln des Individuums, seinen freien Willen als Werkzeug des Überlebens anspricht. Als sei der Mensch in seiner Lebensfähigkeit nicht auch von Faktoren abhängig, die seiner persönlichen Autonomie vorausgehen, sie erst ermöglichen und in unverzichtbarer Weise ergänzen. Der Mensch muss gezeugt, geboren, aufgezogen und ausgebildet werden. Dabei ist er abhängig von Traditionen und sozialen Beziehungen, die nicht zu den Merkmalen persönlicher Autonomie zählen. Seine Abhängigkeit von diesen jenseits seiner Autonomie liegenden Einflüssen bedeutet eine hohe und ständig neu auszutarierende Beschränkung seines “Rechts auf absoluten Selbstbesitz”.

Wenn dem Menschen etwas Rechtsrelevantes naturgegeben ist, dann die Notwendigkeit, seine Ansprüche (auf Selbstbesitz) unentwegt und zum Teil sehr stark einzuschränken. Er muss auf “absoluten Selbstbesitz” gerade verzichten, um zu überleben. Genau das Gegenteil ist also der Fall, von dem, was R. behauptet, dass nämlich der Mensch ein Anrecht auf “absoluten Selbstbesitz” habe, weil ihm dies zum Überleben nötig sei.


Geschrieben im Juno 2013.



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