Tuesday 14 February 2017

Wissen (15 c)



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Über das hinaus, was ich als Vorüberlegung unter 15 a anzumerken habe, bin ich mit einigen Kernaussagen des nachstehenden Texts heute, einige Jahre nachdem ich ihn geschrieben habe, sehr unzufrieden.

Was ich unten über sedimentiertes Wissen zu sagen habe, ist interessant, wertvoll und bestimmt auch für viele eine willkommene Horizonterweiterung. So weit so gut. Aber. Ich überziehe maßlos, indem ich suggeriere, dass Versuche, sich Probleme des menschlichen Miteinanders bewusst zu machen und sie durch geplante Vorgehensweisen angemessen zu handhaben, eine gefährliche zivilisatorische Anomalie darstellen. Diese Haltung ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund einer ideologisch gefärbten stillen Annahme. Nämlich, dass die zahlreichen Projekte, mit denen der politische Mensch in Wirtschaft und Gesellschaft eingreift, grundsätzlich verfehlt seien und als Typus menschlichen Verhaltens, ungeachtet ihrer genauen Umstände und Auswirkungen, den gebührenden Respekt vor dem sedimentierten Wissen vermissen ließen und zu gesellschaftlichen Entartungen führen müssten.

[English, partial summary: The below text deals with an interesting and important aspect of human knowledge, sedimented knowledge, as I call it: knowledge enclosing (long-standing) human experience, such as the rules of algebra, which we may take advantage of without having to go through the process of acquiring it from scratch. Or think of principles of human conduct that we follow to our benefit without re-living the experiences that have led man to adopt them more or less gradually. 

The text, however, strongly suggests — preposterously — that by using explicit knowledge (especially as manifested in strategies fully reasoned out) rather than relying on sedimented knowledge, political man is bound to go astray by virtue of interfering with a complex order that he has not created himself, giving up a reliable source of knowledge in favour of mere pretense of knowledge, as somehow in dealing with his societal environment man is — for the most part — better served by general principles than by rational analysis and well-planned strategy. Rendering intelligible the reasons why I should adopt such an awkward position requires recourse to a set of classically liberal presuppositions: human intervention in the economy and society is a priori a highly dubious ambition and in most cases of detrimental outcome. If one shares this expectation, the below text reads without bumps. To me, however, over the years, it has become a very bumpy read.] 

5. Sedimentiertes Wissen und polyzentrisches Wissen

5.1 Sedimentiertes Wissen

Unter sedimentiertem Wissen ist jenes Wissen zu verstehen, das sich einlagert in der historischen Tiefenstruktur der an die Nachwelt weitergegebenen Menschheitserfahrungen. Es handelt sich vielfach um Erfahrungen, die die Menschen über große Zeiträume gemacht haben. Erfahrungen, die später nicht mehr zugänglich sind in der Fülle der sie einst bestimmenden konkreten Umstände. (Niemand kann wirklich rekonstruieren, wie das Begrüßungsritual des Händeschüttelns sich in Europa tatsächlich in allen konkreten Einzelheiten entwickelt hat.) Oder es ist einfach effizienter, darauf zu verzichten, die Erfahrungen praktisch oder im Kopf zu wiederholen, die uns ein nützliches Stück sedimentiertes Wissen gegeben haben. (Wenn der Rumba erstmal „sitzt“, wozu sich die Tanzschritte immer wieder bewusst machen?) Sie bleiben uns in hochgradig komprimierter Form erhalten, als abstrakte Sedimente einstmals konkreter Erfahrungen. Sie bilden einen erfahrungsgeologischen Code, den wir als erlernte Automatismen, Routinen, Gepflogenheiten, Konventionen, Traditionen und Prinzipien wahrnehmen, die wir zu beherzigen oder als selbstverständlich hinzunehmen gelernt haben. Dieses Wissen ist leicht zu übersehen, auch wenn seine Bedeutung für uns nur schwer zu überschätzen ist. Fast alles, was wir tun und denken wird durch dieses sedimentierte Wissen beherrscht. Ob wir unsere Schuhe schnüren, uns die Zähne putzen, die richtige Kleidung für einen gegebenen Anlass auswählen, uns passend ausdrücken, Auto fahren, eine Doktorarbeit anfertigen, Geld anlegen, uns auf einer Tanzparty amüsieren, jemandem die Meinung sagen, uns zur Nachtruhe betten, eine Geburt hilfreich begleiten oder einen Menschen bestatten – zum allergrößten Teil folgen wir dabei Traditionen, d.h. wir machen uns sedimentiertes Wissen zu nutze, Wissen, das uns überliefert worden ist, nicht Wissen, das wir selbst entdeckt haben. Natürlich reichern wir das sedimentierte Wissen mit originellem Wissen an und vor allem stellen wir es zu ganz eigenen Arrangements zusammen, so dass wir ein Leben führen, das keine simple Kopie der Vergangenheit ist. Aber das Rohmaterial, das wir hierzu hauptsächlich verwenden, ist sedimentiertes Wissen.

Wenn wir die Bedeutung des sedimentierten Wissens nicht kennen oder leugnen und seinen Gebrauch einschränken, erschweren oder verbieten, so reduziert sich der Schatz an nützlichen Erfahrungen, über den wir gebieten. Wir verlieren wichtige Orientierungshilfen. Der naive Rationalismus bestärkt in uns die Neigung, nur explizites Wissen anzuerkennen und andere Formen des Wissens zu ignorieren oder als unbrauchbar oder gar als irrational zu verwerfen. Wie wir mit Wissen umgehen, was wir über Wissen denken und was wir als Wissen anerkennen und was nicht, sind alles Fragen, die die größten Auswirkungen auf unser Leben nach sich ziehen. Die rationalistische Weigerung oder Unfähigkeit, die Bedeutung des sedimentierten Wissens zu würdigen, oder es als schädlichen Aberglaubens abzutun oder sogar zu bekämpfen, hat geradezu katastrophale Konsequenzen für die menschliche Zivilisation. Denn es verändert die Einstellung der Menschen gegenüber allgemeinen Regeln und Prinzipien zu seinem Nachteil. Es veranlasst sie diesen Erfahrungs- und Orientierungsquell mit Geringschätzung zu bedenken und ihn der Austrocknung preis zu geben. Man gibt sich dem Dünkel hin, erfolgreicher zu verfahren, wenn man die Gebote allgemeiner Regeln und Prinzipien ( = sedimentiertes Wissen) durch die Einschätzungen ersetzt, die sich dem Mensch aufgrund seines Verstandes als unmittelbar einsichtig aufdrängen. Doch ohne den Respekt vor allgemeinen Regeln und Prinzipien kann eine wohlhabende und friedliche Gesellschaft ebenso wenig auf Dauer auskommen, wie der einzelne Mensch seinen Alltag ohne die tausendfältigen Hilfestellungen des sedimentierten Wissens zu bewältigen vermag. Denn, wie gesagt, auch wenn unser bewusstes Denken und unser explizites Wissen die tragende Rolle bei der Bewältigung unserer Lebensaufgaben nach unserem Empfinden zu spielen scheint, sind in Wahrheit weitaus größere Anteile unserer Lebenstauglichkeit dem Tradierten, dem Imitierten, dem nichtexpliziten Wissen, eben dem sedimentierten Wissen zuzuschreiben, das zudem stets die Voraussetzung unserer bewussten Kalküle ist (Einstein z.B. wäre nicht denkbar ohne die Jahrtausende der Vorarbeit anderer Gelehrter, da er sonst wohl kaum über, sagen wir, die Erfindung der elementarsten Arithmetik oder anderer ihm tatsächlich selbstverständlicher Hilfsmittel hinausgekommen wäre).

Fortgesetzt hier.

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