Friday 19 February 2016

Das Paradoxon der Freiheit (9) - Ein Vortrag

Fortsetzung des achten Teils.

Die gute Gesellschaft ist eine spontane Ordnung. In diese spontane Ordnung eingreifen, heißt sie schwächen und schädigen. Wenn dies auch das robuste, unermüdlich vertretene Grundmuster der Hayek-liberalen Argumentation wiedergibt, so drängen sich selbst Liberalen weitergehende Fragen auf über den genauen Grenzverlauf zwischen legitimen und illegitimen Formen der Intervention in eine spontane Ordnung.

An dieser Frage scheiden sich die liberalen Geister, bilden gegnerische Lager und "exkommunizieren" einander indem sie Richtung Sozialdemokratie driften oder umgekehrt den Großteil sozialdemokratischer Staatseingriffe verurteilen und auf die Vorzüge des minarchistischen Minimalstaats pochen. Auf dem Kontinuum zwischen Anarchismus, der die Abschaffung des Staats für die Grundvoraussetzung einer akzeptablen Gesellschaftsform hält, und dem marxististischen Sozialismus, der die ideengeschichtlich bisher umfänglichste Steuerung und Kontrolle der Gesellschaft durch den Staat fordert, und diese Forderung ab 1917 in der Praxis zunächst in Russland und dann in anderen Ländern umsetzen wird, liegen die Schwellenbereiche, jenseits derer sich der Liberalismus in anderen Ideologien auflöst. Am einen Ende: der Minarchismus, der häufig in den Krypto-Anarchismus und mitunter in den bekennenden Anarchismus übergeht. Am anderen Ende: die Sozialdemokratie. 

Unter Krypto-Anarchismus verstehe ich den in liberalen Kreisen weitverbreiteten Standpunkt derer, die es zwar ablehnen, sich als Anarchisten klassifizieren zu lassen,  zugleich in ihren typischen politischen Reaktionen aber Anarchisten gleichen, da sie sich nahezu ausschließlich in harscher Staatskritik ergehen. Minarchisten und Krypoto-Anarchisten haben eine sehr niedrige Toleranzschwelle hinsichtlich staatlicher Eingriffe. Fast alle gesellschaftlichen Probleme werden auf schädliche Staatseingriffe zurückgeführt. Es ergibt sich eine gewisse Symmetrie mit sozialistischen Argumentationsmustern: sind für den Minarchisten fast alle Übelstände das Ergebnis anmaßender staatlicher Einmischung, so sehen viele Sozialisten in "der kapitalistischen, vom Staat unzureichend gezähmten Gesellschaft" die Quelle aller Missstände.

Es ist die Wahl des Grenzverlaufes zwischen zulässigen und unzulässigen Staatseingriffen, die die Verschiebung der liberalen Identität zwischen Minarchismus und Sozialdemokratie bewirkt. Dabei ist ein vermeintlich "klassischer" Standpunkt festzustellen, wonach ein Liberaler nur solche Eingriffe duldet, die dazu dienen, die allen gleichermaßen zugestandene Privatsphäre des Individuums zu schützen. Niemand besitzt das Recht, seine Anliegen dadurch zu befördern, dass er diese geschützte Privatdomäne eines Anderen verletzt. Eingriffe und Angriffe sind nur zulässig, wenn sie diesem Schutzauftrag entsprechen.

Harm-Principle und Benefit-Principle

Nur der Schaden ("harm"), der der rechtlich bestimmten Privatsphäre eines Menschen droht, berechtigt zum Angriff in schützender Absicht oder zum anderweitigen Eingriff Dritter in die Angelegenheiten eines freien Individuums. 

Dieses "harm principle" hat eher propagandistisch-plakativen Charakter, da seine Umsetzung schnell auf grundsätzliche Hindernisse stößt. Welche Rechte die zu schützende Privatsphäre umfasst ist Gegenstand vielschichtiger Kontroversen. Man kann ein einvernehmliches gemeinsames Verständnis dieser Kategorie und der zahllosen Einzelrechte, in die sie zerfällt, schlechterdings nicht erwarten - schon gar nicht in einer Gesellschaft, in der ein hohes Maß an politischer Freiheit herrscht.

Außer in der Welt starrköpfiger Doktrinäre und Ideologen wird dieses "harm principle" schnell vom lebensnahen "benefit principle" verdrängt. Gemäß dem Benefit-Principle darf sehr wohl in geschützte Privatbereiche eingegriffen werden (z.B. Enteignung im Zusammenhang mit Infrastrukturprojekten wie dem Bau einer Bahnlinie), wenn sich dadurch ausreichend wichtige Vorteile für die Allgemeinheit sichern lassen - durchaus auch unter Wiedergutmachung der Nachteile, die das in seinen Freiheitsrechten beeinträchtigte Individuum erleidet.

Es ist an dieser Stelle, dass sich der doktrinäre Liberalismus abkoppelt vom freiheitlichen Denken, das unvoreingenommen an die Möglichkeiten des Benefit-Principle herantritt. Hier ist die Bruchstelle, die den ideologischen Liberalismus zurücklässt, indes große Teile des liberalen Gedankenguts nun eine gemeinsame Reise mit sozialreformerischen Kräften antreten, an deren Ende wir die moderne Sozialdemokratie vorfinden, die den Liberalismus als Fundament wählt, auf das sie ihre zahlreichen erfolgreichen Reformen und Interventionen stellt. Es ist im Übergang zwischen Harm-Principle und Benefit-Principle, dass sich die Identität des modernen Liberalen ab 1850 zu wandeln beginnt und den Stab der politischen Führung an die zutiefst im Liberalismus verwurzelte, aber eingriffsbereitere Sozialdemokratie übergibt.


Der Liberalismus Hayekscher Prägung bleibt der ursprünglichen Tradition treu, die ab 1850 zurückbleibt hinter rasant vollzogenen Neuerungen bei der Nutzung des Staats als Reformkraft und Garant neuartriger sozialer Errungenschaften. Ich kann hier nur andeuten, dass der Liberalismus in Wirklichkeit von Anfang an offen war für sinnvolle Formen politischer und staatlicher Gestaltung. Das realpolitische Aufgehen der liberalen Impulse in der modernen Sozialdemokratie und die lärmenden propagandistischen Schlachten zwischen dem doktrinären Liberalismus des Harm-Principle und seiner empörten Gegner haben uns jedoch den gegenteiligen Eindruck hinterlassen. Tatsächlich lebt der Liberalismus fort als Depositum in wichtigen Schichten des sozialdemokratischen Paradigmas, das die westliche Welt im 20. Jahrhundert politisch beherrscht hat.

Demgegenüber bewegt Hayek sich größtenteils im Bereich des Minarchismus. Sein Hauptaugenmerk gilt den selbstorganisierenden Abläufen im gesellschaftlichen Leben.


Seine beharrliche Voreingenommenheit gegenüber größeren Eingriffen in die spontane Ordnung einer freien Gesellschaft hindert ihn grundsätzlich daran, den Versuch einer entwickelten und konsistenten Theorie von Politik und Staat auch nur in Angriff zu nehmen. Vorverurteilt als Hauptschuldige des Interventionismus, sieht Hayek keine Notwendigkeit, Politik und Staat einer tiefer gehenden Analyse zu unterziehen. Dass sich Hayek gelegentlich wie von ungefähr auf den Staat beruft als Vollzugsorgan bestimmter politischer Ziele, die seine Zustimmung finden, wie etwa eine Reihe sozialstaatlicher Einrichtungen, rechtfertig den Eindruck, dass die Linienführung seiner Gesinnung nicht frei ist von erratischen Ausschlägen in Richtung Sozialdemokratie. Wir werden aber bald schon sehen wie heftig diese Ausschläge in anderen wichtigen Punkten von ihm mit minarchistischem Eifer zurückgenommen werden.


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