Wednesday 17 February 2016

Das Paradoxon der Freiheit (6) - Ein Vortrag

Fortsetzung des fünften Teils.

In der letzten Folge habe ich versucht, die wichtige Rolle zu veranschaulichen, die der Wahl des Abstraktionsniveaus bei der Analyse eines Themas zukommt. Wir haben gesehen, dass es für ein möglichst vollständiges und wahrheitsnahes Bild entscheidend sein kann, das Abstraktionsniveau zu variieren zwischen Perspektiven, die den Blick auf allgemeine Merkmale freigeben, und solchen, die uns konkretere Ausschnitte erschließen. Denn wer nur die Totale betrachtet, übersieht vielleicht Einzelheiten, die für die korrekte Deutung des Ganzen maßgeblich sind. Umgekehrt, wer nur ein spezielles Detail betrachtet, ahnt womöglich nichts vom Ganzen, das der Einzelheit erst ihren eigentlichen Sinn verleiht.   

Damit zurück zum Hauptstrom meiner Argumentation.

Die Gesellschaft vornehmlich als spontane Ordnung anzusehen, bedeutet, dass man sich auf ein bestimmtes, sehr hohes Abstraktionsniveau festlegt. Zweifellos ist die Gesellschaft eine spontane Ordnung. Deswegen ist es völlig berechtigt, sie von der hochabstrakten Warte zu beleuchten, die das erstaunliche Merkmal ihrer Selbstorganisiertheit überhaupt erst erkennbar macht. Aber man darf dort nicht stehen bleiben, sondern sollte auch in die tieferen Schichten des Gesamtbildes hineinzoomen, um Einflussgrößen in Augenschein zu nehmen, die darin verborgen sind.

Es stellt sich nun die Frage, warum der Liberalismus Hayekscher Prägung diese starke Neigung aufweist, auf einem insgesamt zu hohen Abstraktionsniveau zu verharren, um von dort aus seine Forschungsresultate einzusammeln und die Argumente zu lancieren, die sein Profil in der öffentliche Wahrnehmung bestimmen.

Über diese Frage lässt sich trefflich spekulieren. Aber es gibt auch triftige Anhaltspunkte und sehr plausible Erklärungen. Es ist einerseits das Kennzeichen einer Ideologie, allgemeine und allgemeingültige Aussagen zu machen: "Der Kapitalismus führt immer zu ...", "In einer freien Gesellschaft kann es nur ..."

Ich vertrete den Standpunkt, dass, insofern als der Liberalismus die geistige Totalität einer sich unwiderleglich wähnenden Ideologie anstrebt, ist er unweigerlich gezwungen, sich auf unzulässige Verallgemeinerungen zu stützen - wie jede andere Ideologie.

Andererseits aber ist der Liberalismus, nicht ohne Berechtigung, bemüht, das Rennomme bedeutender wissenschaftlicher Erkenntnisse für sich in Anspruch zu nehmen, die nun einmal auf einem hohen Abstraktionsniveau beruhen: selbstregulierende Strukturen im menschlichen  Miteinander - die spontane Koordination zwischen Millionen von Menschen, die durch Märkte auf einander bezogen sind; Gleichgewichtstendenzen in und zwischen Märkten; die abstimmenden Effekte von Wettbewerbsprozessen.

Spontane Ordnung entdeckt man nicht durch die Wahrnehmung des szenenreichen Getriebes im Frühstückssaal eines Hotels. Spontane Ordnung ist eine über komplizierte Stufen abgeleitete Idee, sie ist ein Destillat aus vielen konkreten Wahrnehmungen und theoretischen Zwischenschritten. Sie ist von Natur aus abstrakt, sehr abstrakt. Wie die Suche nach den Grundlagen der modernen Wirtschaft; wie die Mikroökonomie.

Um zum Wesentlichen vorzudringen, ist es unumgänglich, ein Gewimmel an Konkretheiten außer Acht zu lassen.

Wenn man aber das Weggelassene schließlich ganz vergisst und nicht mehr weiß, dass die durch Abstraktion entdeckte grundsätzliche Funktionsweise - des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs z.B. - nur ein - eben auch durch Auslassungen - stark bedingtes Modell ist und nicht dem vollen Bild der realen Abläufe entspricht, dann ist es möglich, die verstehende Rekonstruktion zu früh abzubrechen, in dem man wichtige Faktoren übersieht, wie den Einfluss von Politik und Staat auf das wirtschaftliche Handeln der Menschen.


Vermutlich zu Recht macht uns Hayek darauf aufmerksam, dass die Menschheit bis ins Zeitalter des aufblühenden Liberalismus, bis ins 17. und 18. Jahrhundert, jene wichtige Dimension unserer Welt nicht zu erfassen vermochte, die darin besteht, dass wir von selbstorganisierenden Mechanismen umgegeben, geprägt und abhängig sind. Es kann sehr abträglich sein, diesen Teil der Realität zu ignorieren. Aber es kann auch sehr abträglich sein, ihn zu verabsolutieren, und der Rolle, die das bewusste Gestalten in unserem Miteinander einnimmt, zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken.


2 comments:

  1. Danke für den interessanten Beitrag zu unterschiedlichen Abstraktionsniveaus. Auch in meinem Beruf ist es wichtig, die Entwürfe aus verschiedenen Blickwinkeln und Standpunkten und aus unterschiedlichen Entfernungen zu betrachten - vom städtebaulichen bis zum kleinsten Detail. Wir verwenden dafür Darstellungen in unterschiedlichen Maß-
    Stäben - von 1:1000 oder größer bis 1:1. In der Regel beginnt man mit dem "Großen" und zoomt sich nach und nach immer näher an die Einzelteile heran. Dabei trifft man eine Auswahlt: nicht alle Teile müssen mit der größten Zoomstufe bearbeitet werden.



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    1. Das würde ein schönes Chaos geben, wenn alle Entscheidungen bei Planung und Bau eines Hauses auf Basis des größten Maßstabs erfolgen würden. Danke für das Anwendungsbeispiel aus der Architektur.

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